Schulsystem verändern

Die Gesellschaft befindet sich im Umbruch, denn nicht zuletzt wegen des Coronavirus und des Klimawandels verändert sich unsere Leistungsgesellschaft in vielen Bereichen stark und schnell.

Das trifft das veraltete Schulsystem im Deutschland besonders, da dies der Ort ist, an dem die zukünftige Generation heranwächst, die in dieser veränderten Welt leben wird. Das Schulsystem wird sowohl der gegenwärtigen Welt als auch der zukünftigen Welt unserer Kinder nicht gerecht und ist gleichzeitig kaum fähig, sich als System effizient zu weiterzuentwickeln. Wir können es uns allerdings als Gesellschaft nicht leisten, uns dem Wandel im Schulsystem weiterhin zu entziehen. Wir müssen das Schulsystem verändern. Der Wandel beginnt schon in grundlegenden Überzeugungen und Denkweisen. Meine Vorschläge beschreibe ich hier.

Menschenbild

In jedem Menschen liegt ein natürliches Bestreben danach, seine Anlagen und Fähigkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen. Als Teil gesellschaftlicher und ökologischer Systeme, zu welchen der Mensch in ständiger Wechselwirkung steht, ist es seine Aufgabe, seine Umgebung so zu gestalten, dass neben seinen Grundbedürfnissen auch seine Bedürfnisse nach Sinn, Gemeinschaft, Autonomie, Entwicklung und Sicherheit nachhaltig befriedet werden können.[2] In diesem Zuge ist er auch verantwortlich für den Erhalt seines Lebensraumes.

Die Güte pädagogischer und didaktischer Ansätze zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich dem Menschen als dienlich und nützlich erweisen sowohl bezüglich seines eigenen inneren Erlebens als auch bezüglich der Interaktion mit seiner Umwelt. Das Ziel einer menschenbildenden Einrichtung ist es, den achtsamen Kontakt des heranwachsenden Menschen zu sich selbst und seiner Umwelt zu bewahren und ihn bei der Herausentwicklung seiner angelegten Potenziale zu unterstützen.

Eine menschenbildende Einrichtung gewährleistet die Befriedigung der oben genannten Bedürfnisse, die die Grundlage der natürlichen Herausbildung von Mündigkeit[3] ist.

Aus diesem Menschenbild leite ich folgende Grundsätze ab.

Grundsätze

1. Lernen ist Selbstverantwortung

Bei der Herausentwicklung seiner Potenziale und Fähigkeiten dient dem Kind sein inneres Lernbedürfnis als natürlicher Kompass für ihm innewohnenden Lernziele. Dies äußert sich durch das Zeigen von Interesse an der Welt. Nur dort, wo das Kind Neugier und Interesse in sich spürt, lernt es erfolgreich und nachhaltig. Wenn das innere Lernbedürfnis des Kindes langfristig nicht befriedigt werden kann, schadet das der gesunden Kindesentwicklung.

Das bedeutet, dass das Kind für sein Lernen selbst verantwortlich ist. Unabhängig von gesellschaftlichen Anforderungen ist die freie Wählbarkeit von Lerninhalten das Recht eines jedes Kindes. Deswegen ist das unfreiwillige Lernen z.B. für eine Prüfung eine Zwangshandlung und somit eine Gewalttat an dem natürlichen in jedem Kinde angelegten Lernbedürfnis.

„Kinder sind Potentialenfaltungsbomben.“

André Stern, Freilerner

2. Lernen begleiten statt belehren

Da das Lernen ein vom Kind gesteuerter, selbstverantwortlicher Prozess ist, kann nur das Kind die innere Erlaubnis erteilen, dass Erwachsene seinen Lernprozess begleiten. Belehrung ohne innere Einverständnis des Kindes ist ohne Wirkung.[1] Der Erwachsene kann nur dann das Lernen anregen, es begleiten und regulieren, wenn das Kind seine innere Zustimmung gibt. Wenn Erwachsene dem Kind die Verantwortung für das eigene Lernen abnehmen, (z.B. durch festgesetzte Lernziele) betrügen wir es um eine essentielle Erfahrung seiner eigenen Selbstwirksamkeit.

„Hilf mir, es selbst zu tun.“

Maria Montessori

3. Lernen ist Beziehung

So sehr Kinder die Verantwortung für ihr Lernen selbst tragen, so sehr brauchen sie andere Menschen, an denen sie sich als Mensch erproben können und die sie als Quelle neuer Inspirationen ansehen. Erst durch die Beziehungen zu anderen Menschen erhält unser Bestreben nach Entfaltung einen Sinn. Beziehungen geben den sicheren Rahmen, in dem Lernen überhaupt erst möglich ist und sichtbare Früchte trägt. Die Beziehungsqualität zwischen Erwachsenem und Kind ist entscheidend für den Lernerfolg.

„Der Erwachsene trägt die volle Verantwortung für die Qualität der Beziehung zum Kind“

Jesper Juul, Familientherapeut

4. Der Lernraum

Damit ein Kind lernen kann, braucht es eine anregende und vielfältige Lernumgebung, die immer wieder neu auf die im Kind lebendigen Lernbedürfnisse ausgerichtet ist.

Die Verantwortung für die Gestaltung der Lernumgebung und für Rahmenbedingungen des Lernens trägt der Erwachsene. Er hat die Aufgabe, die Interessen sowie Lernhindernisse im Kind zu erkennen und die Lernumgebung regelmäßig daran anzupassen. Die von Natur aus vorhandene hohe Lernbereitschaft bleibt durch eine dem Kind gerechte Umgebung durchgängig erhalten.

„Der Raum ist der dritte Pädagoge.“

Aus der Reggio-Pädagogik

5. Persönlichkeitsentwicklung

Sobald das Kind erfolgreich und nachhaltig lernt, findet die Entfaltung seiner in ihm angelegten Potenziale statt und es entwickelt seine eigene Persönlichkeit hin zu einem reifen, selbstsicheren und selbstbewussten Menschen. Der Erwachsene hat die Aufgabe, in diesen individuellen Wachstumsprozess zu vertrauen und ihn zu begleiten.
„Eigentlich braucht jedes Kind drei Dinge. Es braucht Aufgaben, an denen es wachsen kann, es braucht Vorbilder, an denen es sich orientieren kann und es braucht Gemeinschaften, in denen es sich aufgehoben fühlt.“

Gerald Hüther

6. Schule ist ein Lebensort

Die Schulen sind professionell eingerichtete Orte zur Erfüllung der eigenen Lernbedürfnisse sowie Treffpunkte, um an sich selbst und seinen Fähigkeiten zu arbeiten und neue Dinge miteinander, voneinander oder alleine zu lernen. Die Schule ist ein Ort, wo alle gerne hingehen. Wenn die Schule ein Lebensort ist, muss man die Schüler auch nicht mehr auf das Leben vorbereiten. Es findet ja bereits in der Schule statt.
„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“

Afrikanisches Sprichwort

7. Schule braucht Vision

Eine Schulgemeinschaft befindet sich im ständigen Prozess der Entwicklung einer eigenen Schulkultur. Es braucht eine gemeinsame Ausrichtung, die von allen Beteiligten mitgetragen wird. Eine solche Schulethik oder Vision ist sinnstiftend und fördert die Schul- und Persönlichkeitsentwicklung.

Ein neues Schulsystem

Freiräume statt Klassenzimmer

Vielfältige, altersgerechte Angebote und Anregungen, abwechslungsreiches, intuitives Lernmaterial wie z.B. von Maria Montessori, welches dem Kind einen Zugang zu den Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen geben. Funktionsräume wie z.B. einen Sachkunderaum, in dem die unzähligen Wunder der Welt aufgefächert werden. Lernmaterial kann so ziemlich alles sein von Büchern, über Puzzleteile bis hin zu einem Klumpen Erde.

In einer freien Schule gibt es Wohnzimmer, Aufenthaltsräume und Ruheräume, Arbeitsräume und Essräume. Die Kinder sollten beim Betreten der Schule Hausschuhe anziehen. Statt den ganzen Tag auf unbequemen Stühlen zu sitzen, gibt es verschiedene Sitzmöglichkeiten wie Sitzkissen, Bienenwaben, gemütliche Sofas oder den Boden. Die Schule muss schön sein und alle Beteiligten zum Lernen einladen.

Das Schulgelände sollte anregende Bewegungsangebote bieten (z.B. Bewegungsraum, Gerüste), damit Kinder ihr Bedürfnis nach Bewegung uneingeschränkt nachgehen können. Es muss die freie Bewegbarkeit durch die Schule gewährleistet sein.

Entwicklungsdokumentation statt Noten

Durch die Freiwilligkeit des Lernens entfällt die Notwendigkeit für äußere Leistungsüberprüfung. Daher sollten herkömmliche Klassenarbeiten und Noten auch auf freiwillige Entscheidung des Kindes hin absolviert werden. Kinder beschäftigen sich naturgemäß eher mit Projekten, für die sie sich interessieren (z.B.: Ein Buch schreiben, Fotografie, ein Baumhaus bauen), und deren Prozess und Ergebnis von den Erwachsenen dokumentiert wird. Statt Kinder untereinander zu vergleichen steht die individuelle Entwicklung des Kindes im Vordergrund, welche durch regelmäßige Gespräche und Coachings reflektiert wird.

Lernangebote statt Unterricht

Der Unterricht an freien Schulen ist als Einladung zum Lernen zu verstehen. Daher muss Unterricht freiwillig sein. Der Fachunterricht bindet seinen Kontext an die lebensnahen Lernprojekte der Kinder an. Außerdem gibt es morgens bei Beginn der Schule eine Gleitzeit für einen individuellen Schulanfang, sodass es möglich ist, in einem gewissen Rahmen selbst entscheiden zu können, wann der Schultag beginnt und wann er endet. Kinder lernen an der realen Welt z.B.: Pflege eines Gartens, Möbel aufbauen, Wände streichen, Autos reparieren, Computer programmieren usw. Bücherwissen ist dabei nur eine ergänzende Hilfe. Die Schule stellt regelmäßige Praktikums- und Projektangebote aus dem sozialen, betriebswirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Bereich sicher und bildet dadurch die verschiedenen Gesellschaftsbereiche ab.

Lernbegleiter statt Lehrer

Die Lernbegleiter dokumentieren die Entwicklungsschritte des Kindes und führen regelmäßige Entwicklungsgespräche mit Eltern und Kindern durch. Lernbegleiter sind auch Vorbilder. Sie leben Werte vor und setzen sich für die nachhaltige Entwicklung auf dem Planeten ein. Menschenbildende Fachkräfte sind ausgebildet in der Wahrnehmungsfähigkeit für das, was Kinder gerade lernen wollen, in der gleichwürdigen Kommunikation, die eine gesunde und tragfähige Beziehung zum Gegenüber herstellt, und der Beratung, um zu ermitteln, wie Kinder in ihrem Lernen besser unterstützt werden können.

Lernbegleiter haben selbst eine Ausbildung möglichst breiter Kulturtechniken erfahren, um einen Einblick in die Vielfältigkeit des Lernens zu erhalten. Die Möglichkeiten des Lebens auf der Welt spiegeln die Möglichkeiten des Lernens in der Schule wider. Lernbegleiter haben die Fähigkeit, das eigene Verhalten zu reflektieren und zu regulieren. Sie sind in der Lage, ihre Interaktionen mit dem Kind dahingehen zu prüfen, ob sie dem Kind zu seiner vollen Entfaltung verhelfen oder es behindern.