
Lernen mit Kopf, Herz und Hand
Die Waldorfpädagogik bezeichnet sich selbst als die Pädagogik vom Kinde aus. Ein in Waldorfkreisen beliebter Ausspruch ist auch „Der Lehrplan ist das Kind“. Ich war 1,5 Jahre an eine Waldorfschule als Lehrer tätig ich habe dort eine komplett eigene Welt vorgefunden, die gleichzeitig äußerst faszinierend, aber auch ziemlich beängstigend war.
Pädagogik und Unterricht
An Waldorfschulen gibt es zwei bezeichnende Charakteristika, nämlich der Epochenunterricht, was bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler für drei Wochen beispielsweise jeden morgen die ersten beiden Unterrichtsstunden das Fach Mathematik bei Mathematik-Fachlehrer haben. Nach dieser sogenannten Mathematikepoche, habe sie dann beispielsweise drei Wochen Biologieepoche usw…
Der Unterricht ist also epochal aufgebaut. Im Nachmittagsbereich findet oft handwerklicher Unterricht wie z.B. Plastizieren, Textilverarbeitung, Gartenbau, Schmieden oder ähnliches statt. Tatsächlich haben die jüngeren Schüler (traditionsgemäß bis Klasse 8) einen Klassenlehrer, der alle Epochenunterrichte und damit auch die meisten relevanten Fächer wie Deutsch, Mathematik, Geschichte, Biologie und andere unterrichtet. Lediglich Fremdsprachen und Eurythmie werden ausschließlich in Fachunterrichten bei Fachlehrkräften unterrichtet. Der Klassenlehrer versteht sich mit seiner Klasse als Schicksalsgemeinschaft. Bei Steiner heißt es sogar, die Seelen der Schülerinnen und Schüler suchen sich vor ihrer Geburt die richtigen Lehrer aus, die sie für ihren selbst gewählten Weg optimal unterstützen. Der Klassenlehrer soll dabei immer in positiver und liebender Weise auf seine Schüler schauen. Nicht bewertend, sondern beschreibend.
„Es gibt drei wirksame Erziehungsmittel: Furcht, Ehrgeiz und Liebe. Wir verzichten auf die beiden ersten.“
~ Rudolf Steiner
Der Morgenspruch
Ich schaue in die Welt,
In der die Sonne leuchtet,
In der die Sterne funkeln;
In der die Steine lagern,
Die Pflanzen lebend wachsen,
Die Tiere fühlend leben,
In der der Mensch beseelt,
Dem Geiste Wohnung gibt;
Ich schaue in die Seele,
Die mir im Innern lebet.
Der Gottesgeist, er webt
Im Sonn‘- und Seelenlicht,
Im Weltenraum, da draußen,
In Seelentiefen, drinnen.
Zu Dir, o Gottesgeist,
Will ich bittend mich wenden,
Dass Kraft und Segen mir
Zum Lernen und zur Arbeit
In meinem Innern wachse.
Ab der fünften Klasse ist es an jeder Waldorfschule Brauch, dass morgens vor dem Epochenunterricht gemeinsam dieser Morgenspruch gesprochen wird, der die Grundmerkmale der Anthroposophie in einem kleinen Gedicht zusammenfasst und den Schülerinnen und Schülern in eindrucksvoller Weise ihren Platz in der Welt als tätig werdende Wesen offenbart.
Die meisten meiner Schüler langweilte dieser Spruch allerdings zu Tode, einige weigerten sich sogar, ihn mitzusprechen. Ich selbst fühle mich manchmal wie ein Priester, der am Morgen mit seiner Gemeinde ein Gebet spricht. Obwohl ich den Spruch philosophisch sehr interessant finde und er viel Stoff für Diskussion hergibt.
Eurythmie
Ein Fach, welches wahrscheinlich das Alleinstellungsmerkmal der Waldorfpädagogik schlechthin ist. Das von Unwissenden so verächtlich als „Namen tanzen“ bezeichnete Fach Eurythmie. Der Kern der Eurythmie ist eigentlich ein sehr kunstvoller und banaler: Man will Klänge und Sprache durch Körperbewegungen sichtbar machen. Es ist also eine Art Ausdruckstanz. Für alle Schülerinnen und Schüler aller Klassenstufen ist Eurythmie ein Pflichtfach welches nicht abwählbar ist. Gefragt sind Körperbeherrschung, Koordinationsfähigkeit und ein Gespür für Gruppenbewegungen. In meinen Augen alles Aspekte, die heute vielen Kindern fehlen.
Weil es eben nur in anthroposophischen Kreisen die Eurythmie gibt, kann man sie schwer erklären und beschreiben. Ich kann nur jedem empfehlen, sich mal eine Eurythmiestück anzuschauen und es zu begreifen als ein sich bewegendes Gemälde.